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Autorenbild Crane

Brandnarben


Foto eines Armes über Flammen

Die Streichholzschachtel zittert in meiner Hand, als ich sie aus der Schublade nehme.

Es ist dunkel draußen, und es regnet, bereits seit Stunden tut es das. Ein beruhigendes Geräusch, das Prasseln der Regentropfen auf dem Fensterglas…

Es kratzt leise, als ich die Streichholzschachtel öffne. Während ich mich wieder setze werfe ich einen Blick in die Packung, entdecke auf den ersten Blick drei Hölzer, deren Köpfe noch rot sind anstatt schwarz verkohlt.

Drei.

Das ist nicht schlecht. Doch bedeutet es auch, dass ich mir neue besorgen muss…

Die Erwachsenen achten penibel darauf, derlei Dinge von mir fernzuhalten. Keine Streichhölzer, keine Feuerzeuge. Keine Kerzen, keine Teelichter, kein brennender Kamin. Kein offenes Feuer jeglicher Art, als könnte der bloße Anblick bereits bewirken, dass ich bei lebendigem Leib verbrenne.

Dabei gibt es nichts anderes, was mir derart das Gefühl gibt, am Leben zu sein…

„Es könnte ihn retraumatisieren, Feuer zu nahe zu kommen.“, hatte der Arzt damals gesagt, als ich nach Wochen endlich das Krankenhaus verlassen durfte. „Möglicherweise tut das bereits der Anblick, oder der Geruch. Sie sollten dafür sorgen, dass er professionelle Hilfe bekommt…“

Ich verstehe diesen Verdacht, die Annahme, dass Flammen und Rauch mich zurückversetzen in jene Situation, in der mein Leben beinahe geendet hätte. Auf gewisse Weise hat es das auch…ebenso, wie es auf gewisse Wiese stimmt, dass Feuer die Erinnerung an damals wiedererweckt.

Mir alles deutlich zurück ins Gedächtnis ruft, die Bilder, die Gerüche, die Geräusche. Die Angst, die ich damals empfunden habe.

Die Angst ist auch jetzt da, als ich das erste Streichholz aus der Schachtel nehme und es betrachte.

Sie beschleunigt meinen Puls und lässt mein Herz stärker schlagen, meinen Atem schneller gehen. Aber das ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil.

Die Angst fühlt sich gut an.

Der Streichholzkopf gleitet über den Rand der Verpackung, einmal, zweimal. Das Zittern meiner Hand ist stärker geworden, macht es mir schwer, es weiterhin festzuhalten, geschweige denn, es zu entzünden. Ich weiß es wäre leichter mit einem Feuerzeug… aber das ist nicht das Gleiche. Ich brauche den Geruch nach Schwefel, um mich wirklich gut zu fühlen, den gewünschten Effekt zu erzielen. Die Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, sie lebendig vor mir zu sehen - das, wovon der Arzt behauptet hat, es wäre etwas Schlechtes.

Warum sollte das so sein? Was sollte es Negatives daran geben, dass ich meine Eltern wiedersehen kann? Für eine kurze Zeit vergessen kann, dass sie damals nicht so viel Glück hatten wie ich?

Glück.

So haben sie es genannt, sie alle.

Der Polizist, der mich befragt hat, die Leute, die sich im Krankenhaus um mich gekümmert haben.

Die Psychologin, der Staatsanwalt, die Richterin.

Die Berichterstattung in den Medien, der Strafverteidiger. Die Zeugen, die Jury, und die beiden Menschen, die heute von mir verlangen, dass ich sie als meine „neue Familie“ bezeichne…

Ich hatte Glück, denn ich habe überlebt.

Aber so fühlt es sich nicht an. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem ich mich bewusst darüber gefreut hätte, dass ich nicht gemeinsam mit meinen Eltern im Qualm erstickt bin, darüber, dass die Feuerwehrleute es geschafft haben, mich rechtzeitig aus dem Haus zu holen, mich mit Verbrennungen 4. Grades ins Krankenhaus zu schicken, lange, bevor sie die verkohlten Leichen von Mom und Dad aus dem Obergeschoss bergen konnten.

Damals mit ihnen zu sterben wäre nicht angenehm gewesen, nein.

Aber es wäre schnell gegangen.

So hingegen habe ich seit Jahren das Gefühl, vor mich hin zu siechen. In einem Zustand zwischen Leben und Tod festzuhängen, in Agonie, ohne in der Lage zu sein, mich daraus zu befreien. Nicht vor, nicht zurück.

Ich kann atmen, aber nie genug, um mich lebendig zu fühlen. Als käme bloß ein Bruchteil des Sauerstoffs in meiner Lunge an.

Und wieder bin ich abgeschweift. Hocke da wie eingefroren, in einer Hand die Streichholzschachtel, in der anderen das Zündholz. Als hätte ich mein eigentliches Vorhaben vergessen, während ich in den Gedanken über meine Existenz versunken bin.

Vier weitere Versuche benötige ich, bis das Streichholz endlich Feuer fängt.

Fasziniert beobachte ich die kleine Flamme, während das Gefühl in mir wächst, das ich so sehr herbeigesehnt habe. Diese Mischung aus Furcht und Erregung. Die Wärme auf meiner Haut wird immer intensiver spürbar, je weiter sich die Flamme das Holz entlang frisst, hinter sich alles verkohlt zurücklässt.

Erst, als die Hitze schmerzhaft wird, lasse ich los.

Der, nun zum Großteil schwarz gefärbte Stab, fällt.

Landet auf dem Haufen alter Zeitungen, die ich aus dem Altpapier gefischt und zusammengeknüllt in den Topf geworfen habe, der nun hier in der Mitte meines Zimmers steht.

Einen Augenblick lang flackert die Flamme protestierend auf, droht, bedingt durch den Luftzug beim Fallen, zu erlischen … dann stabilisiert sie sich wieder.

Wie gebannt betrachte ich, wie das Papier beginnt, sich zu verbiegen. Sich bräunlich verfärbt, anfängt zu glühen, und sich schließlich das erste Loch hineinfrisst, dessen schwelende Ränder sich beeindruckend schnell ausbreiten.

Mehr Flammen lodern auf, verwandeln den rostigen Kochtopf in einen Feuerkorb, verleihen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grill, der unten auf der Terrasse steht.

Ein seltsamer Gedanke, der mich zum Lächeln bringt.

Dann strecke ich einen Arm aus. Halte meine Hand über den Topf, so tief, wie es gerade noch zu ertragen ist, und schließe die Augen.

Das Knistern des Feuers, das das Papier zerfrisst, der Geruch, die Wärme… das alles wirkt so verdammt beruhigend.

Es ist paradox, ich weiß, denn eigentlich sollte ich rennen; fliehen vor diesem unkontrollierbaren Element, das meinen Eltern das Leben gekostet hat.

Ein Teil von mir will auch genau das tun.

Doch dieser Teil ist schwach, leise, hat der anderen Seite in mir nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Der Seite, die von den Flammen angezogen wird wie eine Motte vom Licht.

Eine ganze Weile lang sitze ich so da.

Lasse die Gedanken schweifen und versuche, mir vorzustellen, ich wäre nicht hier, nicht in diesem Zimmer, in diesem Haus, in dieser Stadt, die mir auch nach Jahren immer noch derart fremd ist, als wäre ich gerade erst hier hergezogen.

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so.

Als ich die Augen wieder öffne, ist da nur noch das Feuer. Die Umgebung ist verschwommen, kaum noch zu erkennen, und das wiederum bedeutet, dass sie austauschbar ist.

Es ist nicht mehr der karge Raum, in dem ich mich zuvor befunden habe, nein.

Ich bin zuhause.


Der Geruch nach Rauch und verbranntem Papier wird intensiver. Ich atme ihn ein, spüre ein Kratzen in meiner Kehle, muss husten und krümme mich leicht zusammen. Betrachte die Flammen, die unbeeindruckt weiter brennen.

Angenehm. Beruhigend. Vertraut.

Langsam ziehe ich meine Hand zurück, greife neben mich. Nehme den obersten Zettel von dem Stapel, den ich zuvor dort platziert hatte, und werfe einen Blick darauf.

Gelbe Augen starren mir entgegen, grell hervorstechend aus einem Gesicht, das kaum mehr ist als eine Ansammlung von Narben; hässliche bräunlich-rote Wülste mit Nähten, gemalt mit Kohlestift.

Ich erinnere mich, diese Person bereits zuvor gesehen zu haben, drei, vier mal, in meinen Träumen. Das trifft auf alle Dinge zu, die ich auf meinen Zeichnungen festgehalten habe.

Bei den wenigsten von ihnen kann ich mich an Details erinnern, aber was ich weiß ist, dass sie alle mir Angst gemacht haben.

Sie haben dafür gesorgt, dass ich mitten in der Nacht aufgewacht bin, durchgeschwitzt und heftig atmend. Manchmal habe ich im Schlaf um mich geschlagen und die Bücher von meinem Nachttisch gerissen, manchmal habe ich so laut geschrien, dass jemand in mein Zimmer gerannt kam, und die Nachbarn am nächsten Morgen fragten, ob alles in Ordnung wäre mit mir.

Eine Frage, die meine selbsternannten „neuen Eltern“ stets mit „Ja“ beantworten.

Ja, natürlich ist alles in Ordnung. Wie sollte es auch anders sein?

Nancy - niemals werde ich sie „Mom“ nennen, egal, wie oft sie das von mir verlangt - betont immer wieder, wie sie sich schon ewig so sehr ein Kind gewünscht hat, und wie glücklich sie darüber ist, dass das Universum ihre Bitten nun endlich erhört und ihr mich geschenkt hat. Ihrer Meinung nach gibt es keine Probleme.

Nur Herausforderungen.

Ich sei vielleicht ein wenig schwierig, verstört und schreckhaft, aber das wäre nichts, was man durch Vertrauen und positives Denken nicht lösen könnte.

Ich müsse es nur wollen. Mich auf das Gute konzentrieren, dann würde das Universum mir auch Gutes zukommen lassen.

Ein bitteres Lachen dringt aus meiner Kehle, als mir all diese Dinge durch den Kopf gehen.

Für Nancy ist „Das Universum“ die Antwort auf alles, egal, ob es darum geht, dass die Dinge in meinen Träumen mich wieder panisch haben aufschrecken lassen, darum, dass ich in der Innenstadt eine Panikattacke bekomme weil ich all die Menschen nicht ertrage, oder darum, dass ich mir erneut im Stress den Arm blutig gekratzt habe, ohne es zu bemerken.

Es ist immer das Universum, das diese Sachen passieren lässt, und das deshalb, weil meine Gedanken voll von negativer Energie seien.

Manchmal wünsche ich mir, sie würde mir einfach direkt ins Gesicht sagen, dass ich an allem Schuld bin, ohne es in ihrem esoterischen Gerede zu verpacken, denn das würde sich immerhin mit dem decken, was ich selbst empfinde.

Schuld.

Als wäre ich derjenige gewesen, der meine Eltern damals bedroht und gefesselt hat.

Der das Benzin vergossen und das Haus angesteckt hat.

Als wäre ich nicht das verängstigte Kind gewesen, das, verwirrt und mit einem Strick um den Hals, auf dem Boden des Wohnzimmers erwachte und die Flammen auf sich zu kriechen sah, sondern der hasserfüllte Mann, der all das wirklich getan und sich im Nachhinein vor Gericht damit „gerechtfertigt“ hat, dass seine Tochter ihn mit ihrem Verhalten ihm gegenüber so wütend gemacht hatte, dass er gar keine andere Wahl hatte, als sie und ihre Familie umzubringen.

Als wäre es meine Schuld. Als wäre nicht mein Großvater der Mörder, sondern Ich.

Survivors Guilt. Die Schuld der Überlebenden.

Und nun sitze ich hier, vor dem Topf mit den brennenden Zeitungen, und betrachte die Zeichnung eines Gesichts, dessen Züge entfernte Ähnlichkeit mit denen meines Großvaters aufweisen.

Vielleicht ist es das auch.

Die Narben besitzt er in Wirklichkeit nicht, zumindest hatte er keine, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Und seine Augen sind nicht gelb, sondern dunkelbraun. Hatten immer so etwas beruhigendes an sich, sanftes, seine gesamte Ausstrahlung hatte das.

Von außen betrachtet wirkte er immer wie ein guter Mensch. Wie ein freundlicher, alter Mann. Nicht wie jemand, der aus Hass eine Familie auslöscht.

Ich weiß noch, was für eine Angst ich hatte, dass die Jury sich von diesem Aussehen täuschen lässt. Dass sie ihn nicht für fähig halten würden, einen Mord zu begehen - zwei Morde, und einen versuchten - schon gar nicht auf solch grausame Art und Weise.

Dass sie ihn nicht für Mord verurteilen würden, sondern bloß wegen Todschlags, oder noch weniger.

Dass ich das um jeden Preis verhindern wollte.

Die Psychologin hatte mir gesagt, dass ich nicht vor Gericht aussagen müsste. Dass sie und die Staatsanwaltschaft mir im Vorfeld alle relevanten Fragen stellen und die Antworten dann ohne mich, stellvertretend, vorgetragen werden könnten.

Dass man mich nicht zwingen würde, mich all dem auszusetzen. Ganz besonders nicht der Konfrontation mit meinem Großvater.

Aber das hätte sich falsch angefühlt. Feige. Als würde ich weglaufen, mich verstecken, und damit die Chance wegwerfen, dazu beizutragen, dass er seine gerechte Strafe bekommt.

Die Presse hat ständig darüber berichtet, wie mutig ich gewesen wäre. Wie tapfer es von einem 8-jährigen Kind sei, sich all diesen Strapazen auszusetzen; all den Fragen und Kommentaren, dem gesamten Gerichtsprozess, und, am schlimmsten, dem Anblick des Mörders meiner Eltern.

Ich finde nicht, dass ich damals mutig war.

Um mutig zu sein, muss man Angst haben. Und ich hatte keine Angst damals. Nicht vor meinem Großvater, und auch nicht vor dem ganzen Drumherum.

Ich habe mich einfach bloß leer gefühlt.

Diese Person auf der Zeichnung jedoch, ganz gleich, ob es nun Ihn darstellt oder nicht, hat mir Angst gemacht. Die meisten meiner Träume machen mir Angst. Und die meisten von ihnen zeichne ich nach dem Erwachen auf.

Um sie festzuhalten, sie in eine physische Form zu bringen, sie greifbar zu machen.

Und dann das mit ihnen zu machen, was ich jetzt tue.

Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter, als ich den Blick von dem entstellten Gesicht ab- und dem Feuer wieder zuwende.

Die Flammen lodern mittlerweile höher, greifen gierig nach dem Papier, als ich es über den Topf halte und langsam sinken lasse.

Wie zuvor die Zeitungen verfärbt es sich erst bräunlich, dann schwarz, sobald die Flammenzungen es erreichen und sich hindurchfressen.

Verkohlte Stücke lösen sich, fallen herab wie finstere Schneeflocken.

Die Fratze verschwindet.

Das Feuer hat mittlerweile meine Finger erreicht, umschließt meine Hand, doch das macht nichts.

Ich spüre keinen Schmerz.

Mein rechter Arm ist damals vom Ellenbogen abwärts vollständig verbrannt. Besteht bloß noch aus Narben und transplantierter Haut, und das Berührungs- und Schmerzempfinden ist kaum mehr vorhanden. Besonders nicht dann, wenn ich mich so von der Außenwelt abspalte wie jetzt gerade.

Irgendwann lasse ich die Reste des Papiers los. Ziehe meine Hand zurück und halte sie in die Schale mit kaltem Wasser, die ich ebenfalls zuvor bereitgestellt habe.

Ich mache das hier nicht zum ersten Mal. Und ich will mir nicht unbedingt noch mehr bleibende Schäden zufügen, als ich eh schon habe. Auch, wenn es teilweise wohl kaum mehr einen Unterschied macht…

Ich will mich einfach bloß wieder selbst spüren.

Nicht mit Hilfe körperlicher Schmerzen, das könnte ich einfacher haben.

Ich brauche die Erinnerungen.

Und ich will meine Ängste verbrennen, all die Dinge, die mich verfolgen. Will sehen, wie sie in Flammen aufgehen, so wie es damals mit meinem Leben passiert ist.

Will mich eine kurze Zeit lang fühlen, als wäre ich frei.

Wieder verharre ich eine Weile, ohne mich zu bewegen. Betrachte das Feuer, konzentriere mich auf seinen Anblick, seinen Geruch.

Dann, nach einer Zeitspanne, die ich nicht zu benennen vermag, nehme ich den nächsten Zettel.

Er zeigt etwas, von dem ich vermute, dass es eine Katze sein soll, zumindest weisen die kleinen, spitzen Ohren und der Schwanz darauf hin.

Der Rest jedoch ist auf grausame Weise deformiert, verdreht, hat irgendwie etwas Surreales an sich. Der Kopf ist in einem unnatürlichen Winkel vom Rumpf abgeknickt, die linke Augenhöhle leer. Der Kiefer hängt herab, scheint bloß noch von Hautfetzen gehalten zu werden, und Blutfäden hängen herunter und tropfen zu Boden.

Überhaupt ist da überall Blut. Das hellgraue Fell ist voll davon, aber augenscheinlich ist es nur Blut, keine Wunden. Doch wahrscheinlich werden diese einfach von dem langen Haar verdeckt.

Ich kann mich nicht daran erinnern, von diesem Tier geträumt zu haben, was nichts bedeuten muss; an die meisten Dinge kann ich mich eine halbe Stunde nach dem Erwachen nicht mehr erinnern.

Was jedoch immer bleibt, ist die Angst. Das Gefühl, dass im Schlaf etwas Grauenhaftes geschehen ist.

Auch jetzt spüre ich die Angst. Der Anblick der Zeichnung reicht aus, um sie zurückkommen zu lassen.

Und ich glaube, ich weiß, wer diese Katze ist, beziehungsweise was die Vorlage meines Unterbewusstseins für das war, was auch immer in meinem Traum passiert ist.

Bis ich fünf oder sechs war hatte die Familie, die neben und wohnte, eine graue Katze. Sie stromerte ständig durch die Nachbarschaft, und wenn man in ihre Nähe kam, machte sie einen Buckel und fauchte. Mom meinte einmal, dass die Nachbarin ihr erzählt hatte, dass die Katze – ich glaube, sie hieß Snowball, obwohl sie überhaupt nicht aussah wie Schnee – sich nicht einmal von ihren Besitzern streicheln ließ, sondern aggressiv wurde.

Ich hatte keine Angst vor Snowball. Ich ließ sie einfach in Ruhe. Ich mochte es selbst nicht sonderlich, angefasst zu werden, also konnte ich sie verstehen.

Aber diese Zeichnung von ihr macht mir Angst. Nicht wegen dem Blut oder den verdrehten Körperteilen. Ich habe Schlimmeres gesehen. Sondern wegen dem, wofür es steht. Was immer das auch sein mag.

Auch Snowball brennt.

Die Flammen fressen sich durch das Papier, lecken über meine Haut. Ich sehe ihnen zu, und dabei frage ich mich, was damals aus Snowball geworden ist.

Ich glaube, sie wurde überfahren.

Ja, ich meine, mich zu erinnern, dass die Tochter der Nachbarn, mit der ich zur Schule ging, deren Namen ich aber im Gegensatz zu dem der Katze nicht mehr weiß, einmal im Unterricht davon erzählt hat. Das tut mir leid für Snowball…

Aber ihr Bild muss trotzdem brennen.

Es folgt das gleiche Spiel wie vorher. Eine Weile des reglosen Dasitzens, die Hand im kühlen Wasser. Dann der Griff zum nächsten Blatt.

Ich werfe einen Blick darauf und merke sofort, wie sich alles in mir verkrampft.

Wieder kann ich nicht sagen, was mit diesem Motiv in meinem Traum geschehen ist, aber das spielt auch keine große Rolle; denn in diesem Fall wäre es vollkommen gleichgültig, ob es sich um eine Zeichnung handelt oder ein Foto oder ein wirkliches Objekt. Und dabei würde ein Außenstehender dieses Bild hier wohl für das Harmloseste von allen halten. Ja, es wahrscheinlich sogar schön finden.

Auf dem Papier sind zwei Schmetterlingsflügel zu sehen. Kein Raupenkörper in der Mitte, bloß die Flügel. Ausgerissen.

Ich spüre die Übelkeit, die in mir hochkriecht, und das Zittern, das meinen gesamten Körper ergriffen hat. Schnell halte ich das Blatt von mir weg, über das Feuer. Sehe zu, wie es brennt, sich in Asche und Glut verwandelt… aber die Angst bleibt.

Ich kann jetzt die Stimmen hören, die Worte eines mir fremden Kindes auf dem Spielplatz, auf den mein Vater manchmal mit mir gegangen war. Das Kind – ich kannte seinen Namen nicht, obwohl ich mich erinnere, dass wir manchmal gemeinsam auf den Baum am Rande des Spielplatzes geklettert sind und so getan haben, als wären wir Katzen – kam damals auf mich zu gerannt, vollkommen aufgeregt und wild mit den Armen fuchtelnd.

„Komm mit, ich muss dir was zeigen!“, rief es. „Das ist echt cool!“

Bis heute weiß ich nicht, was an dem, was ich zu sehen bekam, bitteschön voll cool gewesen sein soll. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte, zu sehen – vielleicht so etwas wie das filigrane Vogelskelett, das ich einmal in komplettem Zustand neben der Veranda unseres Farmhauses gefunden hatte. Das wäre cool gewesen! Wobei sich darüber vermutlich auch streiten lässt.

Jedenfalls, ich weiß nicht, was ich damals auf dem Spielplatz erwartet habe, vorzufinden, aber ich war neugierig. Folgte dem Kind zu einer flachen Regentonne, die zu einer Art kleinem Wasserpark gehörte, und ließ mir zeigen, was es derart faszinierend fand.

„Schau mal!“, rief es enthusiastisch, und deutete auf etwas, das in der Mitte des Fasses schwamm. „Ein toter Schmetterlingsflügel!“

Bis heute habe ich keine Ahnung, was genau an dieser Situation mich so sehr geprägt hat. Vielleicht war es einfach der Anblick, oder aber die Gedanken, die ich mir im Nachhinein machte, darüber, was bitteschön mit dem Rest des Tieres passiert war.

Möglicherweise war es aber auch die Formulierung.

Ein toter Schmetterlingsflügel.

Als hätte der Flügel ein Eigenleben gehabt, wäre ein eigenständiger Organismus gewesen, der unabhängig vom Körper agieren konnte und womöglich noch eine Zeit lang zuckend im Wasser um sein Leben gekämpft hatte…

Schnell halte ich mir eine Hand vor den Mund und beginne, zu würgen. Beinahe st0ße ich den Kochtopf um, als ich mich zusammenkrümme und nach Luft ringe, versuche, die Übelkeit zurückzudrängen, mein rasendes, stolperndes Herz zu beruhigen.

Das Bild ist längst verbrannt, doch die Worte bleiben. Hallen durch meinen Kopf, immer und immer wieder.

Toter Schmetterlingsflügel. Toter Schmetterlingsflügel. Toter Schmetterlingsflügel.

Und dazu die Erinnerung an dieses falsche Auge im bunten Muster, das ich wohl niemals mehr vergessen werde.

Wie eingefroren sitze ich da, betrachte das Feuer. Die Flammen werden schwächer, drohen, zu erlöschen. Haben das Papier im Topf beinahe vollständig aufgefressen.

Das ist okay.

Ich habe noch mehr Zeitungen. Und noch zwei Streichhölzer.

Als ich schließlich wieder fähig bin, mich zu bewegen, ist das Feuer aus. Ich nehme den Topf, stehe auf. Schwanke einen Moment lang, spüre, wie mein Kreislauf absackt. Schwärze breiter sich vor meinen Augen aus, mein Körper kribbelt, und einen Augenblick lang habe ich das sichere Gefühl, dass meine Beine unter mir wegknicken und ich stürzen werde. Sehe bereits vor mir, wie ich auf dem Boden aufschlage, bei meinem Glück in einer Position, in der ich mir mindestens etwas verstauche, wenn nicht Schlimmeres, strecke instinktiv meine Arme aus, um mich abzufangen…

Dann schwindet das Gefühl wieder. Die Umgebung gewinnt an Klarheit zurück, das Schwindelgefühl verblasst. Alles in Ordnung.

Alles gut.

Die Asche verschwindet im Papierkorb neben meinem Schreibtisch. Kurz mustere ich den grau- schwarzen Haufen, dann wende ich mich ab.

Zurück zu den Zeichnungen, zurück zu den Streichhölzern.

Das nächste Knäuel zusammengeknüllter Zeitungen landet im Topf. Wieder zittern meine Hände, als ich die Schachtel nehme, doch bei Weitem nicht mehr so stark wie vorhin.

Dieses Mal brauche ich nur zwei Versuche, bis es brennt. Es hat irgendwie etwas Routiniertes, das alles. Ein festgelegter Ablauf, dem ich einfach folge, ohne darüber nachzudenken.

Ich muss nicht nachdenken. Es ergibt sich einfach.

Die Zeitungen brennen, der Geruch von Rauch hüllt mich ein, und ich verspüre das drängende Bedürfnis, meinen Arm tief hinein in die Flammen zu halten, zuzusehen, wie sie über meine Haut streicheln, sie umhüllen, und sie verfärbt zurücklassen, ohne dass ich etwas davon spüre…

Der Gedanke ist unfassbar verlockend. Mein rechter Arm ist seit damals ohnehin wie ein Fremdkörper für mich, es wäre wohl kaum mehr ein Unterschied, ob ich ihn brennen sehe oder das Papier. Bloß, dass brennende Haut unangenehmer riecht.

Dennoch tue ich es nicht.

Nicht aufgrund eines Selbsterhaltungstriebs oder dergleichen, ich bezweifle manchmal, dass ich so etwas überhaupt besitze. Aber ein verbrannter Arm ist schwierig zu verstecken, und noch schwieriger zu erklären.

Also nehme ich bloß die nächste Zeichnung und sehe sie an.

Ich hatte erwartet, wieder Angst zu empfinden. Ein Gefühl von Furcht, vielleicht nicht so stark ausgeprägt wie zuvor beim Anblick der Schmetterlingsflügel - tote Schmetterlingsflügel, wispert die Stimme in meinem Kopf - aber ausreichend, um meinen Herzschlag zu beschleunigen, mich stärker zum Zittern zu bringen.

Da ist auch Angst, doch sie ist hintergründig, dumpf. Wird überschattet von etwas, was weitaus deutlicher ist, und ganz und gar nicht zu den Dingen passt, die ich bisher bei diesem Unterfangen empfunden habe…

Freude. Gemischt mit Zuneigung.

Es ist das Motiv des Bildes, das diese Empfindungen in mir auslöst, und obwohl ich weiß, dass ich regelmäßig von diesem träume, bin ich doch überrascht, es hier zu sehen. Kann mich nicht daran erinnern, es jemals aufgemalt zu haben…

Die Zeichnung ist eine von Mika.

Mika war die Bordercollie-Hündin, die wir hatten, als ich ein Kind war. Sie war älter als ich, ich bin mit ihr aufgewachsen, habe sie damals als meine beste Freundin betrachtet. Habe ihr alles erzählt, was mir durch den Kopf ging, meine Zeit viel lieber mit ihr verbracht als mit anderen Kindern.

Manchmal, wenn ich nachts aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, weil ich aus irgendeinem irrationalen Grund der Überzeugung war, dass irgendetwas in den Schatten des Zimmers lauerte, bereit, seine Klauen nach mir auszustrecken und mich zu packen, stand ich auf und ging nach unten ins Wohnzimmer. Meine Eltern fanden mich häufiger morgens dort, zusammengerollt auf Mikas Schlafkissen, die Hündin neben mir mit der Schnauze auf meiner Seite.

„Sie passt auf, dass du keine Alpträume hast“, sagte Dad einmal, und tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, in Mikas Gegenwart jemals schlecht geträumt zu haben.

Ja. Zu ihren Lebzeiten habe ich niemals etwas Schlechtes mit Mika verbunden.

Und dann, an einem schönen, warmen Junimorgen, als ich gerade sechs Jahre alt war, kroch sie unter die Treppe unserer Veranda und starb.

Wir haben lange nach ihr gesucht. Sie gerufen, sind die Straßen abgelaufen, haben die Nachbarn befragt.

Vielleicht habe ich damals auch an Snowball gedacht, gehofft, dass Mika nicht auch überfahren wurde.

Nun, das wurde sie nicht. Sie ist einfach eingeschlafen.

Erst gegen Abend fand meine Mutter ihren Leichnam.

Mika sah genau so aus wie immer, wenn sie schlief, die Schnauze auf den Vorderpfoten, die Hinterbeine ausgestreckt. Ganz normal.

Aber sie würde nie wieder aufwachen.

Ich war so unfassbar wütend damals. Habe nicht verstanden, wie sie mich einfach allein lassen konnte, und dann auch noch so, ohne jeden Abschied.

Es hatte keine Vorwarnung gegeben, keine Hinweise darauf, dass es ihr schlecht ging, überhaupt nichts.

Sie war einfach plötzlich weg. Und ich war nicht in der Lage, zu verstehen, warum.

Ich war nicht lange wütend, ziemlich schnell gewann die Trauer die Oberhand. Und das war auch der Zeitpunkt, an dem ich Mika das erste Mal in meinem Traum auf meinem Bett sitzen sah.

Vor dem Tod meiner Eltern waren diese Träume einfach nur angenehm. Ein Wiedersehen, auf das ich mich freute und das ich herbeiwünschte, bei dem Mika sich auf meinen Beinen zusammenrollte oder sich neben mich legte oder einfach am Fußende sitzend verharrte und mich beobachtete.

Als würde sie über mich wachen. Wie früher.

Nach dem Brand aber veränderten sich diese Träume.

Es gab und gibt noch immer die, die einfach bloß positiv sind. In denen Mika ist, wie sie immer war, freundlich, sanft und beschützerisch.

Aber dann sind da eben auch die anderen. Die, in denen Mika nichts mehr mit ihrem eigentlich Ich gemeinsam hat.

Manchmal spüre ich plötzlich ihr Gewicht auf mir, blicke in trübe, graue Augen und ein Gesicht, das von Schnitten und eitrigen Wunden überzogen ist, mit einem Maul voller krummer, verfaulter, aber trotzdem messerscharfer Zähne.

Sie schnappt dann nach mir, und ich kann ihren Atem riechen; den Geruch von Tod und Verwesung.

Manchmal stemmt sie ihre Pfoten auf meinen Brustkorb und drückt die Luft aus meiner Lunge. Beugt sich weiter über mich und knurrt, in einer Tonlage, die ich zu ihren Lebzeiten niemals von ihr zu hören bekam.

Und manchmal beißt sie dann zu.

Einmal erwachte ich nach dieser Art von Traum und war noch nicht einmal in der Lage, zu schreien. Konnte bloß ein heiseres Gurgeln hervorbringen, denn Mika hatte mir im Traum die Kehle durchgebissen.

Trotz all dieser alptraumhaften Erlebnisse, die immer und immer wieder passieren, ist die Angst auch nach längerer Betrachtung der Zeichnung von Mika gering. Das Bild wirkt einfach zu friedlich, zu vertraut, auch, wenn einige Dinge darin ihrer Alptraum-Version entsprechen statt ihrer wirklichen Form. Die weißlichen Augen zum Beispiel, die zu glühen scheinen, und das linke Ohr, das in blutigen Fetzen herabhängt.

Trotzdem. Es ist eben Mika.

Zum ersten Mal heute empfinde ich einen gewissen Widerwillen, als ich die Zeichnung über das Feuer halte.

Es ist das Richtige, ja, denn auch ihr Anblick hat mir Angst gemacht, wenn auch nicht so sehr wie die anderen.

Und trotzdem schmerzt es irgendwo.

Nachdem auch ihr Bild zu Asche geworden ist ziehe ich die Hand wieder zurück und schließe die Augen.

So ist es noch leichter, sich vorzustellen, woanders zu sein, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.

Das Knacken des Feuers, wenn es den Sauerstoff verbrennt - wie damals, als ich ohne Orientierung im Wohnzimmer erwachte, unfähig zunächst, die Augen zu öffnen. Nichts anderes wahrnahm als die Geräusche und den Geruch… und die Hitze, die mit jeder verstreichenden Sekunde stärker wurde.

Dieses Feuer, hier und heute, kann ich kontrollieren.

Es bewegt sich auf begrenztem Raum, ich habe Wasser da, um es zu löschen, kann es jederzeit beenden, wann immer ich will…

Hätte ich das doch bloß damals gekonnt.

Irgendwann öffne ich die Augen wieder. Konzentriere mich auf den Anblick der Flammen, strecke wieder meine Hand aus. Genieße die Hitze auf meiner Haut. Ziehe die Hand zurück. Warte einige Sekunden lang, wiederhole es dann.

Vor. Zurück. Vor. Zurück. Immer wieder.

Es ist beängstigend, dieser Anblick, und gleichzeitig so beruhigend; schmerzhaft und doch angenehm.

Die Stimme meiner Mutter erklingt in meinem Kopf, so klar, dass sie sich beinahe wirklich real anhört.

„Mit Feuer spielt man nicht“, sagt sie, freundlich und streng zugleich. „Du wirst dich daran verbrennen!“

Aber das hier ist kein Spiel. Es ist so viel mehr.

Es ist mein Tor zur Vergangenheit. Zu einer Zeit, in der ich mich noch gut fühlte. Lebendig.

Niemals könnte ich darauf verzichten…

Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, zerspringt alles um mich herum.

Jemand, oder etwas, packt mich an den Schultern und zerrt mich zurück. Dreht mich um, hält mich weiter fest, und einen Augenblick lang sehe ich in das Gesicht meines sogenannten ‚Vaters‘.

Er starrt mich ebenfalls an, mit aufgerissenen Augen und aufgebrachtem Blick, öffnet den Mund und sagt etwas… Aber ich kann ihn nicht verstehen.

Verharre einfach reglos in seinem Griff, halb kniend, halb stehend, versuche, zu begreifen, was hier geschieht…

Er sollte doch noch nicht wieder zurück sein. Wollte doch mit Nancy irgendwelche Freunde besuchen, bis spät in die Nacht, es kann doch noch nicht…

Dann trifft mich ein heftiger Schlag.

Mein Kopf wird zur Seite gerissen und ich schnappe nach Luft, Schmerz durchzuckt mich, noch immer gedämpft, aber doch spürbar.

Allmählich dringen die Worte zu mir durch, die mir entgegengebracht werden.

„…mir zu! Bist du eigentlich total bescheuert?“

Ich antworte nicht. Sehe ihn einfach bloß an, noch immer versuchend, die Situation zu verstehen, zu erfassen, was passiert…

Dann beginnt sein Gesicht, sich zu verändern. Seine Züge verformen sich, Risse ziehen sich über die Haut und verleihen ihr das Aussehen von gesprungenem Porzellan, seine Lippen verziehen sich zu einem widerlichen Grinsen…

„Keine Angst“, sagt der Mann vor mir, mit einer anderen Stimme als zuvor, einem anderen Aussehen als zuvor.

Ein Zittern erfasst meinen gesamten Körper, als ich registriere, dass ich in die dunkelbraunen Augen meines Großvaters blicke.

Heftig zicke ich zurück. Strecke gleichzeitig die Arme aus, schlage nach meinem Gegenüber.

Eine Handlung, mit der dieser anscheinend nicht gerechnet hat.

Er schreit auf, als meine Finger ihn an der Wange treffen, darüber kratzen und rote Striemen hinterlassen. Lässt meine Schultern los und streicht sich mit einer Hand durchs Gesicht, mich dabei anstarrend, mit diesen verdammten, braunen Augen…

Ich stolpere nach hinten, zurück, weg von ihm, höre dabei einige Sekunden lang zwei verschiedene Stimmen, die sich gegenseitig überlagern wie bei einem Radio, dessen eingestellte Frequenz zwischen zwei Sendern liegt.

„…los mit dir? Du…“

„…wehtun. Es wird…“

„…dich noch um! Ist es…“

„…du stillhältst. Ich…“

„…willst? Oh, das…“

„…Mühe, dass es schnell geht. Du…“

„…einfacher haben! Jedenfalls ohne unser…“

„…ruhig bleiben! Dann ist es…“

„…abzufackeln! Wenn du schon…“

„…vorbei!“

„…sehr sterben willst!“

Möglicherweise sagen sie noch mehr, sehr wahrscheinlich tun sie das. Sie werden nicht einfach verstummen, werden weiter auf mich einreden, mich bedrängen, mich wahnsinnig machen!

Doch für den Moment kann ich sie nicht mehr hören. Denn meine eigenen Schreie sind zu laut.

Panik durchfährt meinen gesamten Körper. Das Adrenalin fließt durch meine Adern, mein Puls rast, mein Herz pocht unregelmäßig, stolpert.

Hektisch schnappe ich nach Luft, aber scheinbar ohne Erfolg; da ist nichts, was ich einatmet kann, kein Sauerstoff, nichts. Bloß ein lebensfeindliches Vakuum…

Dann sehe ich, wie mein Großvater sich über mich beugt. Seine Augen sind auf mich gerichtet, mustern mich. Das Lächeln, das sein Gesicht ziert, ist freundlich, sanft, ein Anblick, der einfach bloß unfassbar schmerzhaft ist… Hämisch. Grausam.

Er packt meine Arme und drückt mich auf den Boden.

Meine Schreie werden lauter, meine Panik noch intensiver; mit aller Kraft versuche ich, mich loszureißen, winde mich in seinem Griff, trete nach ihm… Aber alles ohne Erfolg.

Sein Gewicht auf mir nimmt zu, sein Griff wird fester.

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr. Undeutlich, kaum mehr als ein Schatten… ist dort noch jemand?

Ich will mich zur Seite drehen, will sehen, was es ist, was sich dort bewegt („Nancy“, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, das ist Nancy da hinten, und der Typ, der dich festhält, ist dien ‚Vater‘, und das ist vielleicht beschissen, ziemlich beschissen sogar, aber allemal besser, als wenn es wirklich dein Großvater wäre! Also reiß dich zusammen und-“

Ich habe keine Ahnung, was nach dem ‚Und‘ noch folgen sollte, was die Stimme, die immer irgendwie so tut, als hätte sie alles im Griff, mir sagen wollte.

Denn plötzlich ist alles still.

Ich glaube, noch immer zu schreien, so fühlt es sich an, doch ich höre nichts mehr. Nicht mich selbst, nicht die Stimme in meinem Kopf, nicht die meines Großvaters… einfach nichts.

Die Stille ist so vollkommen, so… endgültig. Es fühlt sich so seltsam an…

Ich merke, wie ich wegdrifte. Mein Körper fühlt sich schwer an, taub, und irgendwie so, als würde er nicht mehr mir gehören. Als würde er mich abstoßen.

Kurz bevor ich endgültig versinke, in eine tiefe, allumfassende Schwärze, vernehme ich doch noch einmal ein Geräusch, das zu mir durchdringt.

Wieder ist es mein Großvater, der zu mir spricht, mit dieser so vollkommen unpassend freundlichen Stimme…

„Ganz ruhig.“

Während er zu mir spricht spüre ich, wie sich etwas um meinen Hals legt. Es kratzt auf meiner Haut, scheuert, aber bloß leicht… dann zieht es sich zusammen. Schnürt mir die Luft ab, drückt meinen Kehlkopf schmerzhaft zusammen, sorgt dafür, dass mein Körper sich reflexartig zusammenkrümmt, ohne, dass ich irgendeinen Einfluss darauf hätte…

„Jetzt halt endlich still, du dummes Kind!“

Dann - nichts mehr.


Als ich die Augen wieder öffne, ist alles um mich herum weiß.

Es ist so hell, zu hell, es tut weh, so hell ist es…

Der Schmerz sticht in meine Augenhöhlen, zieht durch meinen Schädel. Will die Augen wieder schließen, will zurück in die Dunkelheit, doch es geht nicht…

Dumpfe Geräusche sind um mich herum zu hören. Stimmen. Murmelnd, mal lauter, mal leiser, aber alle unbekannt. Weiß nicht, von wem sie stammen… oder wo ich bin…

Mein Puls, eben noch relativ ruhig und gleichmäßig, fängt wieder an, zu rasen. Ich zicke zusammen und richte mich gleichzeitig auf, blicke mich hektisch um, und plötzlich ist da ein stechender Schmerz in meinem Arm.

Ich schreie, schlage um mich, will den Fremdkörper, den ich an meiner Armbeuge spüre, herausreißen.

Doch noch ehe ich die Hand danach ausstrecken kann erklingt wieder eine Stimme, direkt neben mir diesmal, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

„Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Du bist-…“

Was auch immer die Stimme noch sagen wollte, ich verstehe es nicht mehr.

Da ist bloß noch ein statisches Rauschen, unterbrochen von wenigen Wortfetzen, die keinen Sinn ergeben…

„Nicht… furchtbar… Wiederseh-… ald…“

Ich drehe mich zur Seite und blicke in ein Gesicht, das, genau genommen, kein Gesicht ist. Es sollte eines sein, das wäre logisch, denn der Körper, zu dem es gehört, ist menschlich. Doch da sind keine Augen, keine Nase, kein Mund. Bloß eine von tiefen Furchen durchzogene Fläche.

Trotzdem scheint dieses Ding mich anzustarren, mich mit Blicken zu durchbohren. Ein Wimmern entweicht meiner Kehle, und ich hasse mich dafür! Es wirkt so armselig…

„…alles gut!“, sagt das Ding ohne Gesicht, mit plötzlich erstaunlich klarer Stimme. Doch auch, wenn ich die Worte akustisch nun verstehe, so kommt ihre Bedeutung nicht recht bei mir an.

Das alles ergibt einfach keinen Sinn…

Mein Herz schlägt noch immer schnell, zu schnell. Kurzzeitig war meine Panik in den Hintergrund gerückt, war von Verwirrung überschattet worden.

Aber jetzt kommt sie zurück. Trifft mich mit voller Wucht, und lässt mich ein weiteres Mal zusammenzucken. Sorgt dafür, dass ich die Arme hochreiße um nach dem gesichtslosen Etwas zu schlagen, woraufhin ein weiteres Stechen durch meinen linken Arm schießt.

Was immer es ist, was diesen Schmerz verursacht, es soll weg! Ich will weg, raus hier, wo immer ich auch sein mag! Wie auch immer ich hier hergekommen bin…

Ich schaffe es nicht einmal, mich aufzurichten.

Jemand packt mich – nein, es kann nicht nur eine Person sein – drückt mich nach unten, hält mich fest. Ich schreie. Laut, schrill, verzweifelt, doch es bringt nichts, sie lassen nicht los…

Stimmen reden durcheinander, nicht mit mir, sondern über mich. Kann sie kaum verstehen, denn ich kann einfach nicht aufhören, zu schreien…

„…müssen wir doch…“, sagt eine von ihnen, was sie müssen, kommt nicht bei mir an.

„…sicher…“, erwidert eine andere. „…Clodinin?“

Ich weiß nicht, was das bedeutet, dennoch wird meine Panik noch stärker.

Dann ist da ein weiteres Stechen in meinem Arm, tiefer diesmal. Ich reiße den Kopf zur Seite, will sehen, was vor sich geht, aber meine Sicht ist zu sehr von Tränen verschleiert, als dass ich etwas erkennen könnte.

Ein Gefühl von Taubheit kriecht über mich.

Mein Widerstand erlahmt, ohne, dass ich das will, meine Arme und Beine fühlen sich an, als wären Gewichte daran befestigt worden. Ich spüre ein brennendes Kribbeln in meinem Gesicht, will etwas sagen, schreien, aber alles, was ich hervorbringe, ist ein heiseres Krächzen…

Das Letzte, was ich höre, bevor mich erneut die Schwärze überwältigt, ist die Stimme meines Großvaters:

„Wieso stirbst du nicht endlich?“

Und alles ist still.


Es ist noch immer alles weiß, als ich erwache.

Alles ist wie vorher – zu hell, zu schmerzhaft.

Aber jetzt bin ich ruhig… kein rasender Puls, keine Panik. Bloß eine seltsame Gleichgültigkeit…

Ich will mich aufrichten, mich umsehen. Habe immer noch keine Ahnung, wo ich hier bin…

Mein Vorhaben wird abrupt gestoppt. Etwas drückt gegen meinen Bauch und meine Schulter, hält mich unten. Mein nächster Impuls ist, zu ertasten, was es ist, das mich festhält, doch auch das ist nicht möglich. Meine Arme sind ebenso fixiert wie der Rest meines Körpers…

„Ah, Mr. Wells! Sie sind wach!“

Die Stimme überrascht mich und lässt mich zusammenzucken. Ich drehe den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen ist – immerhin dazu bin ich in der Lage – und erblicke einen Mann, der gerade dabei ist, das Kissen eines dort stehenden Bettes zu beziehen. Er lächelt mir zu und unterbricht seine Arbeit. Während er auf mich zukommt, fragt er: „Wissen Sie, wo Sie sind?“

Automatisch schüttele ich den Kopf, während mein Gehirn sich mit der Frage beschäftigt, wieso dieser Typ mich mit Nachnamen anspricht. Nicht, dass das sonderlich wichtig wäre in diesem Moment, aber es ist einfach so ungewohnt, dass es mich noch zusätzlich verunsichert… als gäbe es nicht bereits genügend verwirrende Dinge.

„Verstehe“, unterbricht der Mann meine Gedanken. Er steht nun neben mir, blickt auf mich herab.

Ich mag diese Situation nicht; wie ich hier liege und nichts tun, mich kaum bewegen kann, während irgendein Fremder mich anstarrt…

Ich sollte wieder panisch werden. Doch irgendwie scheint alles in mir, jede Empfindung, dumpf, wie betäubt. Da ist keine Panik, und auch kein anderes Gefühl.

Der Mann spricht nun weiter, und es dauert einige Augenblicke, bis ich den Sinn hinter seinen Worten begreife. „Sie sind in einer Klinik. Im Red Hill Asylum, um genau zu sein. Keine Sorge, es ist soweit alles in Ordnung. Ihre Eltern haben einen Krankenwagen gerufen, und die haben Sie hierhergebracht, weil…“

„Das sind nicht meine Eltern.“ Ich spreche diese Worte aus, ohne darüber nachzudenken. So, wie es jedes Mal tue, wenn jemand diese Aussage tätigt.

Der Gesichtsausdruck des Mannes zeigt ernsthafte Verwirrung. „Ach so?“, fragt er. „Aber in den Unterlagen steht, dass Mr. Wells…“

Ich unterbreche ihn, zerre währenddessen leicht an dem, was meine Arme fixiert und unten hält.

„Okay, ja… biologisch ist er mein Vater! Aber er hat sich nie um mich gekümmert, bis… ihm praktisch nichts anderes übrig blieb!“

Bis meine richtigen Eltern ermordet wurden, und das Gericht und seine Frau ihn nötigten, mich aufzunehmen, füge ich in Gedanken hinzu, doch das spreche ich nicht laut aus. Warum sollte ich?

Der Mann nickt, als verstünde er genau, wovon ich rede. „Ah. Okay. Jedenfalls…“ Er scheint einen Moment zu brauchen, um sich neu zu ordnen. „Sie sind jetzt hier in der Klinik. Sie waren extrem panisch, und darum mussten Sie sediert…ruhiggestellt werden. Und darum sind Sie auch am Bett fixiert, wir mussten sicherstellen, dass Sie sich selbst nicht noch mehr Schaden zufügen. Aber jetzt sind Sie ja ruhig, also gebe ich gleich Bescheid, dass man Sie losmachen kann.“

Panisch. Ruhiggestellt. Fixiert, sich selbst Schaden zufügen.

Ich verstehe diese Begriffe, und doch kommen sie nicht wirklich bei mir an. Scheinen nichts mit mir zu tun zu haben, als wäre ich bloß ein unbeteiligter Beobachter, der einen Film schaut oder ein Buch liest.

Aber das bin ich nicht.

Ich bin der, der hier liegt, auf diesem Bett in dieser Klinik, dieser Psychiatrie, wie mir mittlerweile klar ist. Und das bloß, weil meine ‚Eltern‘ früher nach Hause gekommen sind. Es war doch alles gut…

Der Mann sagt noch etwas, aber ich höre ihm nicht mehr zu. Lasse meinen Blick wieder zur Decke wandern, beobachte die weißen Platten.

Allmählich kommt das Gefühl zurück in meine Arme; ich spüre Schmerz, nicht bloß solchen, der von Verbrennungen kommt.

Aber das ist egal. Alles ist egal.

Ich bin gefangen in dieser Welt, die ich si nicht will, nicht ertrage, und die einzige Möglichkeit, wie ich ihr entkommen kann, wird mir immer wieder aufs Neue genommen. Sie verstehen es nicht, und das wollen sie auch gar nicht. Sie hören mir nie zu, wenn ich reden will, blocken das Gespräch immer ab. Glauben, dass das das Beste für mich wäre. Aber sie haben keine Ahnung.

Es schmerzt, jeden Tag aufs Neue ein Leben zu leben, das ich so nicht wollte. Allein zu sein mit meinen Gedanken, der Wut, der Angst.

Niemand da, der mir zuhört, der einmal etwas anderes sagt als „Das wird schon“.

Wie soll irgendetwas werden, wenn ich seit Jahren wie eingefroren bin? Lebt man überhaupt, wenn sich nie etwas ändert und man sich immer bloß gleich fühlt?

Leer. Erstarrt.

Ich bekomme mit, wie weitere Leute in den Raum kommen. Die Fixierungen meines Körpers werden gelöst, sodass ich mich endlich wieder frei bewegen kann, mich aufrichten, umsehen.

Aber das will ich gar nicht mehr. Es ist egal, wie es hier aussieht, oder wo genau ich bin. Was ändert das schon?

Jemand spricht mich an, redet mit mir. Ich schenke dem keine Beachtung, starre einfach weiter an die Decke. Irgendwann, wie viel später genau weiß ich nicht, wird es wieder still.

Aber auch das ist egal. Ich bin ohnehin nicht wirklich hier.

Nach weiterer undefinierbarer Zeit, die verstrichen ist, drehe ich den Kopf zur Seite und hebe meinen linken Arm.

Der Unterarm und die Handfläche sind mit Verbänden umwickelt, unter denen ein dumpfer Schmerz poch. Auch an den unbedeckten Stellen Haut sehe ich Kratzer, die teilweise wirklich tief wirken, und Bissspuren. Ein Anblick, der mich weder erschreckt noch überrascht. Es ist nicht das erste Mal.

Das passiert einfach manchmal; wenn ich aus einem Alptraum erwache oder in der Schule Panik bekomme und mich auf dem Klo verstecke. Manchmal auch einfach so.

Oder eben wie dieses Mal, wenn man mich aus der einzigen Situation herausreißt, in der ich glücklich bin. Mich lebendig fühle.

Ich könnte wohl besser damit umgehen, wenn meine ‚Eltern‘ sich wirklich um mich sorgen würden. Wenn sie mir dabei helfen würden, dass es mir besser geht, dass ich besser mit all dem umgehen kann. Wenn sie es zumindest versuchen würden.

Aber das tun sie nicht, das tun sie nie.

Sie wollen bloß, dass ich funktioniere. Dass ich das Kind bin, das sie immer wollten, aber selbst nicht bekommen konnten. Das mag übertrieben klingen, aber ich weiß, dass es so ist. Ich habe sie reden gehört. Abends, im Wohnzimmer.

Sie haben gesagt, dass ich schwierig wäre. Als wäre das etwas Überraschendes.

Der Rat des Arztes, mich von Feuer fernzuhalten, war der einzige, den sie übernommen haben, obwohl er noch so viele mehr gegeben hatte.

Keine weitere Therapie, denn was bringt schon ein solches Psycho-Gerede wenn man sich auch an ‚das Universum‘ wenden kann? Keine Unterhaltungen über das Geschehene. Über meine Alpträume, meine Ängste. Immer bloß dieselbe Aussage: „Das wird schon irgendwann.“

Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen, und nichts ist geworden. Es wird bloß schlimmer. Und ich habe keine Ahnung, wie lange ich das noch aushalten kann. Und wofür überhaupt.

Seufzend lehne ich mich zurück, lasse meinen Arm sinken und schließe die Augen.

Es ist alles so anstrengend. So sinnlos.


Eine Weile lang liege ich einfach da, versuche, wieder einzuschlafen. Ohne Erfolg.

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich jetzt hier bin, in dieser Klinik. Vielleicht finde ich hier endlich jemanden, der mir hilft…

Dann höre ich, wie sich die Zimmertür öffnet und jemand den Raum betritt.

„Mr. Wells? Ihre Eltern sind da. Sie warten im Besuchszimmer.“

Dieses Mal unterdrücke ich den Drang, diese Aussage zu kommentieren. Richte mich auf und öffne die Augen, was mir erstaunlich schwerfällt. Ich will nicht aufstehen…doch der abwartende Blick der vor mir stehenden Pflegerin zeigt mir, dass ich nicht wirklich eine Wahl habe.

Sie wartet, bis ich aus dem Bett bin und meine Schuhe angezogen habe. Dann führt sie mich den Gang entlang, vorbei an einem offenen Raum, in dem einige Leute sitzen, bei denen es sich vermutlich um andere Patienten handelt. Am Ende des Flures befindet sich ein weiteres Zimmer, durch dessen Glastür ich Nancy und meinen ‚Vater‘ erkennen kann.

Nancy sieht mich ebenfalls. Sie hebt eine Hand, sagt dabei etwas zu ihrem Mann, der sich daraufhin zu mir dreht. Wie automatisiert hebe ich ebenfalls die Hand.

Kaum habe ich den Besucherraum betreten, legt Nancy die Arme um mich und drückt mich an sich. Eine Geste, die vermutlich beruhigend wirken soll, aber das genaue Gegenteil bewirkt. Ich fühle mich einfach bloß unwohl… und der Satz, den Nancy von sich gibt, als sie mich endlich loslässt, mach das noch viel, viel schlimmer.

„Was sollte das denn? Kann man dich denn überhaupt nicht alleine lassen?“

Ich antworte nicht. Ich wüsste nicht, was…

„Hast du eine Ahnung, was diese Fahrt im Krankenwagen kostet?“, fügt mein ‚Vater‘ hinzu. Er mustert mich, und in seinen Augen ist nichts als Kälte.

Augenblicklich verkrampfe ich mich, starre zu Boden.

Nein, ich habe keine Ahnung. Aber ich habe auch nicht darum gebeten, hier hergebracht zu werden.

Eine Tatsache, die ich definitiv nicht laut aussprechen werde. Stattdessen murmle ich mit leiser, brüchiger Stimme: „Nein… tut mir leid…“

„Wir reden zuhause darüber“, erwidert Nancy, dann greift sie hinter mich und hält mir meine Jacke hin. „Jetzt zieh dich an, damit wir fahren können.“

„…Fahren?“ Ich schaffe es nicht ganz, meine Überraschung zu verbergen. Ich hatte damit gerechnet, dass die beiden hier seien, um mich zu besuchen. Mir vielleicht ein paar Sachen vorbeizubringen.

Nicht, um mich sofort wieder mit nach Hause zu nehmen.

Die Pflegerin, deren Anwesenheit ich vollkommen vergessen hatte, die jedoch noch immer in der Tür steht, scheint ähnlich erstaunt zu sein wie ich. „Uhm, Ma’m“, beginnt sie. „Ich würde nicht unbedingt raten, dass er sofort geht. Wir können noch nicht sagen, wie stabil er ist, und…“

„Das haben wir alles schon geklärt“, unterbricht Nancy sie, in ihrem ganz speziellen Tonfall, der zeugt, dass sie keinerlei Widerspruch dulden wird. „Die Oberärztin hat gesagt, die Verletzungen sind nichts Ernstes. Er hat sich bloß etwas aufgeregt. Kein Wunder, bei dem, was er gemacht hat.“

Bei den letzten Worten wirft sie mir einen scharfen Blick zu, und ich wünschte, ich könnte mich einfach in Luft auflösen.

Kurz sieht die Pflegerin aus, als würde sie noch etwas sagen wollen, Nancy widersprechen… Dann jedoch nickt sie bloß. „Wie sie meinen, Ma’m. Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.“

„Dankeschön…“, murmle ich, während die Pflegerin bereits dabei ist, sich umzudrehen und zu gehen.

„Wiedersehen“, ergänzt Nancy. Wieder hält sie mir auffordernd meine Jacke hin, und diesmal nehme ich sie und ziehe sie mir über.

Während wir den Besuchsraum verlassen und den Flur entlang zum Fahrstuhl gehen, hält Nancy mich am Arm fest. Als hätte sie Angst, dass ich jeden Augenblick zusammenbreche. Oder weglaufe. Ich kann nicht abstreiten, dass dieser Gedanke einen gewissen Reiz besitzt.

Weglaufen. Einfach weg, egal, wohin, und niemals mehr zurückkommen…

Niemand spricht ein Wort, während wir das Klinikgebäude verlassen, in Richtung des Parkplatzes gehen, und uns dort ins Auto setzen. Es ist dunkel, und es regnet noch immer – oder schon wieder, ich weiß es nicht. Weiß noch nicht einmal, ob es noch dieselbe Nacht ist, oder ob vielleicht mindestens ein Tag vergangen ist, seit ich hier hergekommen bin…

Ausdruckslos starre ich aus dem Fenster, während Nancy den Wagen vom Parkplatz auf die Fahrbahn lenkt. Betrachte die Regentropfen, die die Scheibe herabrinnen. Lege die Finger an das Glas und fahre ihre Spuren nach.

„Du hast Hausarrest“, höre ich Nancy sagen, ihre Stimme dringt dumpf durch den Schleier, der mich umgibt. „Himmel, hast du eine Ahnung, wie du uns erschreckt hast? Wie oft haben wir dir schon gesagt, dass du nicht mit Feuer spielen sollst? Und dass du überhaupt nicht reagiert hast, als wir dich angesprochen haben! Ich dachte, du hättest einen epileptischen Anfall oder so! Gottseidank, dass es nichts Schlimmes war!“

Nichts Schlimmes. Natürlich.

Bloß ein kleiner Nervenzusammenbruch, nichts weiter.

Nichts, worum man sich Gedanken machen müsste.

Ich lehne meinen Kopf an das Fenster, schließe die Augen. Konzentriere mich ganz auf das Prasseln des Regens und das Brummen des Automotors.

Es ist alles gut, alles normal.

Vielleicht ein wenig kompliziert, aber nicht unlösbar. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Und während ich so dasitze, merke, wie die Erschöpfung wie eine Flutwelle über mir zusammenbricht und ich langsam wegdrifte, stelle ich mir einmal mehr diese Frage…

Wofür bin ich überhaupt noch hier?

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