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Autorenbild Crane

So eisig die Nacht - Prolog


Digitale Zeichnung in weiß auf schwarzem hintergrund einer gekrümmt dastehenden Person mit schulterlangen schwarzen Haaren und einem Geweih. In der Hand hält sie einen Totenschädel. Darunter steht "So eisig die Nacht" "Reptar Crane"

Es war derselbe Traum wie bereits so viele Nächte zuvor.

Das war zumindest, was Tasha glaubte, als sie ihre Augen öffnete und starr in die Finsternis des Raumes blickte, ohne dabei auch bloß den Hauch einer Silhouette ausmachen zu können, sie war wie erblindet, orientierungs- und reglos.

Hätte sie es nicht besser gewusst, so hätte sie angenommen, dass sie von irgendetwas aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie fühlte sich nicht, als würde sie träumen, doch andererseits war sie auch zu benommen, um wach zu sein, und noch während sie oberflächlich darüber nachgrübelte, in welch wirrem Zustand ihr Geist wohl gefangen sein mochte, verspürte sie an ihrem nackten Oberarm, unterhalb des kurzen Ärmels ihres Krankenhemdes, eine leichte Berührung.

Es war kaum mehr als ein Lufthauch gewesen, und doch zuckte Tasha zusammen und unterdrückte einen Aufschrei, riss die Arme hoch und verbarg schützend ihr Gesicht dahinter. Ein Kribbeln zog sich hindurch in die Tiefen ihrer Hautschichten, bis hinab in ihre Handfläche, und vor ihrem inneren Auge sah Tasha einen Haufen roter Feuerameisen, die wie in einer einzelnen, wimmelnden Masse über ihre Haut krochen und dabei zubissen.

Noch einmal hätte sie am liebsten geschrien. Gleichzeitig kam sie sich albern vor, wie ein Kind, das sich vor den Schatten in seinem Zimmer oder dem Monster unter dem Bett fürchtete. Sie wusste doch, dass sie träumte, nicht nur das, sie wusste sogar, was dieser Traum für sie bereithalten würde, hatte all das schon mehrmals durchlebt, die Berührung, das Kribbeln… aber war es dieses Mal nicht stärker? Intensiver? Fühlte sich… realer an?

„So ein Schwachsinn!“ Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie erneut zusammenzucken, nicht so heftig wie zuvor, doch ausreichend, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und aus ihrem Bett gestürzt wäre. Das wiederum wäre durchaus etwas Neues gewesen, hatte dieser immer gleiche Traum bisher doch stets daraus bestanden, dass sie wie erstarrt dagesessen und in die Finsternis hineingelauscht hatte, aus der eine tonlose Stimme nach ihr gerufen hatte… Die Stimme eines Wesens, das dort lauerte, jedes Mal aufs Neue. Still, und zugleich kreischend, mit starrem Blick, der nach Tod und Schimmel stank, und Tasha wusste ganz genau, wie wirr das klang, doch war es genau so.

„Es ist anders, weil das hier kein Traum ist!“, flüsterte eine eisige Stimme, die irgendwo in ihrem Hinterkopf zu hocken schien, und Tasha musste unwillkürlich frösteln. „Du träumst nicht! Du bist wach! Und du warst jedes Mal wach! Nur jetzt hat Es lange genug gewartet! Jetzt ist es so weit! Und das weißt du ganz genau! Bist du aufgeregt?“

Tasha öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an – was für eine dämliche Aktion, einer den eigenen Gedanken entspringenden Stimme laut zu antworten – doch sie brachte nicht einmal einen einzigen Laut heraus.

Als würde die Finsternis ihre Stimme verschlucken, hineinsaugen in eine unverständliche Leere, die in dieser Welt eigentlich nicht existieren sollte.

Am äußersten Rande ihres Sichtfeldes bewegte sich etwas. Das war eigentlich unmöglich, oder zumindest war es unmöglich, dass sie eine solche Bewegung sah, es gab nichts als Dunkelheit in diesem Raum, kein Fenster, keinen Türspalt, durch den Licht von draußen fallen konnte. Und doch bestand kein Zweifel daran, dass da etwas war, etwas, das Bewegung in die Schwärze brachte, und Tasha fragte sich, wieso sie sich darüber wunderte. Immerhin war das hier ein Traum. Nicht derselbe Traum, den sie bereits so oft gehabt hätte, das war ihr nun klar, so ähnlich der Beginn auch gewesen war, aber immer noch ein Traum. Und in Träumen existierte keine weltliche Logik.

„Tasha, Schätzchen, hör auf zu lügen! Du träumst nicht!“ Wieder diese Stimme. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie einem Teil von Tashas Hirn entsprang, einem Teil, der derart boshaft und feindselig agierte, dass es Tasha im Grunde lieber gewesen wäre, hätte er nicht zu ihr gehört. Der Gedanke, etwas in den Windungen ihres eigenen Verstandes verhöhnte sie auf eine derartige Weise, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Und gleichzeitig hockte dort irgendetwas in der Dunkelheit, das sie beobachtete, musterte, analysierte, unsichtbar verborgen in den Schatten, und dennoch zweifelsohne da.

Tasha konnte es spüren, seine boshafte Aura, und die Kälte, die es mit sich brachte.

Ja. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass es wirklich unsagbar kalt geworden war…

„Es ist kalt, weil ich müde bin!“, versuchte sie sich im Stillen zu beruhigen, und wie nicht anders zu erwarten folgte prompt eine Erwiderung der boshaften Stimme: „Nein, Liebes! Es ist kalt, weil Es hier ist! Weil es dort, wo Es lebt, immer kalt ist! Weil Es selbst die Kälte ist! Weil…“

„Du sollst still sein, verdammte Scheiße!“ Sie hatte nicht schreien wollen, doch konnte sie es nicht verhindern. Ihre Stimme hallte von den kahlen Wänden nieder, prasselte in einem unnatürlich verzerrten Echo auf sie zurück, und Tasha hätte schwören können, dass irgendetwas Fremdes sich in diesen Widerhall hineingemischt hatte, etwas, dessen Ursprung nicht im Entferntesten menschlich war.

Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, das zu tun, was sie früher in Horrorfilmen stets für eine vollkommen hirnverbrannte Idee gehalten hatte – in die Dunkelheit hineinzurufen: „Ist da jemand?“ Doch, wie sie selbst bereits richtig erkannt hatte: Das wäre dämlich. Die Einzigen, die möglicherweise auf eine solche Frage reagieren würden, wären die Pfleger der Nachtschicht, und Tasha wusste aus monatelanger Erfahrung, dass diese Reaktion für sie nicht sonderlich angenehm ausfallen würde.

Mit einem Stöhnen, das weitaus lauter ausgefallen war als sie es beabsichtigt hatte, ließ sie sich zurücksinken, warf sich auf die Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Verdammt, sie wollte doch einfach bloß schlafen! Eine einzige Nacht ohne Alpträume, ohne aus ohnehin unruhigem Schlaf gerissen zu werden, das war alles, was sie verlangte… ihre Ansprüche waren in den letzten Monaten drastisch zurückgegangen. Und doch schien eben noch nicht einmal der ersehnte Schlaf ihr gegönnt zu sein.

Noch während sie in ihren Überlegungen versank merkte Tasha, wie ihre Lider schwer wurden. Ihre Gedanken wurden träger, flossen zäh durch die Windungen ihres Hirns, das Gefühl der harten Matratze unter ihr schwand, während sie langsam zurückdriftete in einen rastlosen Schlaf…

Ein lautes Knacken ließ sie zusammenfahren, und als Tasha registrierte, dass sie ein weiteres Mal geweckt worden war, saß sie bereits aufrecht im Bett. Ihr blieb noch nicht einmal genügend Zeit, um sich zu fragen, ob dieses Knacken lediglich ein Produkt ihrer Fantasie gewesen war, bis es erneut ertönte, und noch einmal, und mit jedem Mal schien es ein kleines Stückchen näher zu kommen.

Knack. Knack. Knack.

Es war nicht laut, nicht wirklich, doch für Tasha klang es wie Peitschenhiebe, und während sie ihre Decke über ihren Kopf zog wie ein dummes Kind, das glaubte, das Monster aus dem Schrank würde sie so nicht verletzen können, sah sie vor ihrem Inneren Auge das Ding, das sich langsam aus der Dunkelheit herausschob und auf sie zu kroch. Sie wusste, woher auch immer, dass es die Knochen dieses Dinges waren, die dieses Knacken auslösten, Knochen, die alt und porös waren und an einigen Stellen die gräuliche Haut durchstießen. Sie wusste dass das Etwas sie anstarrte, durch die Decke hindurch, mit eingesunkenen Augen und hungrigem Blick, dass es nun direkt neben ihrem Bett stand, und langsam, ganz langsam eine krallenbesetzte Hand nach ihr ausstreckte.

Einen Aufschrei unterdrückend presste Tasha ihre Kiefer zusammen und vergrub das Gesicht in ihrem Händen. Ein Schutzreflex, der ebenso wirksam war wie das Verstecken unter der Decke. Das Ding ließ sich nicht im Geringsten beirren, dürre Finger krochen über die Bettdecke, gruben sich in den Stoff, und dann, mit einem einzigen, mühelosen Ruck, wurde Tasha ihre unwirksame Schutzvorrichtung entrissen.

Ein weiteres mal hätte sie um ein Haar geschrien, doch kein Laut Drang aus ihrer Kehle. Mit zusammengekniffenen Augen hockte sie da, sie wollte es nicht sehen, nein, bloß das nicht, doch es spielte keine Rolle, ob sie hinsah oder nicht – ihre Gedanken zeigten ihr das, was sich vor ihr abspielte, in aller Deutlichkeit.

Das Ding, das aus der Dunkelheit herausgekrochen war, hockte nun auf der Kante des Bettes und musterte Tasha mit seinen toten, grauen Augen. Die Haut war rissig und übersät von dunklen Flecken, die teilweise aufgeplatzt waren und den Blick freigaben auf zerfetztes Gewebe, das vielleicht Muskeln oder Sehnen, vielleicht jedoch auch etwas ganz und gar Unbegreifliches darstellte. Es wurde erschüttert von zuckenden Wellen, deren Anblick Tasha Übelkeit verursachten, und dann öffnete das Ding seinen Mund, oder viel mehr seine Kieferknochen, denn sein Kopf bestand aus kaum mehr als einem blanken, unmenschlichen Schädel, an dem bloß noch wenige einzelne Hautfetzen klebten.

„Tasha!“ Das Wort wurde derart in die Länge gezogen, dass von seinem gewöhnlichen Klang nichts mehr übrig blieb. Es war auch nicht im eigentlichen Sinne eine Stimme, die da aus der Kehle des Dinges drang, sondern viel mehr ein alptraumhaftes Grollen.

Aber viel schlimmer als jener surreale Klang war der Gestank, der dabei mitschwang.

„Ich verliere den Verstand.“ Dieser Gedanke war einfach so in ihrem Hirn aufgetaucht, und wenn Tasha ehrlich war, so fiel ihr nichts ein, was sie dem entgegenzusetzen hätte. Wenn es stimmte, was die boshafte Stimme behauptet hatte, dass das hier kein Traum war, dann befand sie sich entweder in einer durch Müdigkeit, Stress, Medikation oder einer Kombination bedingten paranoiden Phase, oder sie stand schlicht an jenem Punkt, den sie bereits seit Monaten vielleicht nicht herbeigesehnt, aber doch zumindest erwartet hatte.

Sie wurde wahnsinnig.

Im ersten Augenblick löste diese Vorstellung eine unfassbare Übelkeit in ihr aus. Ihre Eingeweide verkrampfte sich, ihr blieb die Luft weg und einige qualvolle Sekunden lang hatte sie das sichere Gefühl, zu ersticken. Hektisch warf sie die Decke, die lediglich noch ihre Beine bedeckte, von sich – was spielte das schon für eine Rolle, ein billiges Stück Stoff konnte sie nicht schützen! – beugte sich über die Bettkante und erbrach in einigen trockenen Hustern ihren kläglichen Mageninhalt.

Das Ding betrachtete sie dabei. Obgleich es keinerlei Mimik besaß, war Tasha doch der festen Überzeugung, etwas ähnliches wie Argwohn auf seinem Gesicht ausmachen zu können. Als wäre es… enttäuscht von ihr.

Dann schwand die Übelkeit. Die Panik, die sie soeben noch fest in ihrem Griff gehalten hatte, wich einer Ruhe, die einem rational denkenden Menschen vollkommen fehl am Platz erschienen wäre.

Doch so ein Mensch war Tasha nicht. Nicht mehr.

Allerspätestens in dieser Nacht hatte ihr gesunder Menschenverstand sich verabschiedet, doch wenn sie ganz ehrlich war, dann war das wohl schon weitaus früher der Fall gewesen.

Das erste Mal, als sie ihre Diagnose erhalten hatte, doch damals war es nicht direkt Wahnsinn gewesen, sondern viel mehr die wohl natürliche Verzweiflung, die jeden Menschen überkam, wenn ihm mitgeteilt wurde, dass irgendwo in seinem Inneren ein Tumor wuchs, und das in rasender Geschwindigkeit.

Trotzdem, rückblickend war Tasha sich sicher, dass ihre Psyche damals einen ersten Knacks wegbekommen hatte- und in den folgenden Monaten war es immer schlimmer geworden. All die erfolglosen Therapien, die Nebenwirkungen der Chemo, die Medikamente, alles ohne Wirkung, bis nicht einmal mehr die Schmerzmittel halfen, und dann dieser Lichtblick, der doch zu schön gewesen war um war zu sein, der ihr wieder Hoffnung gegeben hatte… wie lange war es her, dass sie in dieses Programm aufgenommen worden war? Drei Monate? Sechs? Ein Jahr? Sie wusste es nicht. Hatte lange nicht darüber nachgedacht, hatte aufgehört, die Tage zu zählen, es war doch ohnehin einer wie der andere. Manchmal hatte ihr Mann sie besucht, manchmal mit Tommy oder Alana, manchmal alleine, und das war alles, was sie gebraucht hatte. Wie konnte das sein? Wie konnte es sein, dass sie sich so lange keine Gedanken mehr darum machte, wann sie endlich nach Hause kam?

„Es sind die Medikamente, Tasha!“ Da war sie wieder, diese Stimme, und unwillkürlich wandte Tasha sich dem Ding zu, das noch immer reglos neben ihr hockte und sie mit leeren Augen anstarrte. Sie wollte etwas erwidern, das Ding auffordern, zu verschwinden, doch sie brachte keinen Laut hervor, und so fuhr die Kreatur fort: „Sie bekämpfen vielleicht deinen Krebs, meine Liebe, aber das tun sie nicht aus Nächstenliebe! Das sind nicht bloß Tabletten gegen den Tumor, sie verändern deine Psyche! Sie machen dich gehorsam, sie kontrollieren dich! Wie lange hast du schon keine Schmerzen mehr, Tasha? Du weißt es nicht, nicht wahr? Woher auch, wenn du nicht einmal weißt, wie lange du hier bist? Monate, dass ich nicht lache! Du bist so ahnungslos, und du weißt es nicht einmal! Jede Ratte in einem Versuchslabor hat mehr Ahnung davon, was vorgeht, als du. Und genau das bist du, Tasha! Eine kleine Ratte in einem Versuchslabor!“

„Was…was bist du?“, murmelte Tasha. Gleich darauf bereute sie es, gesprochen zu haben, schnell beugte sie sich vor und übergab sich erneut, doch nun war da bloß noch Galle, die auf den Boden tropfte.

Das Ding schüttelte den Kopf. „Das spielt keine Rolle. Aber ich will dir helfen, Tasha! Ich will dir helfen, denn ich helfe allen, die sich verlaufen und vergessen haben, wer sie sind!“

„Ich… habe habe mich nicht…“ Tasha brach ab. Atmete tief durch. Wartete darauf, erneut würgen zu müssen, doch nichts Derartiges geschah, mit einer fahrigen Handbewegung wischte sie sich über die Augen und zog die Nase hoch. Sie war wahnsinnig. Wahnsinnig und vollkommen ahnungslos, was sie tun sollte!

„Nein, Tasha, du bist nicht wahnsinnig!“ Mit einem Mal klang die Stimme des Dings ein ganzes Stück menschlicher als zuvor. Es beugte sich vor, und instinktiv wollte Tasha zurückweichen, doch sie war wie gelähmt… Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Es an, während Es weitersprach, die Worte wurden begleitet vom Knacken seiner morschen Kiefer, doch waren trotz dessen klar verständlich: „Im Gegenteil! Du bist endlich aufgewacht! Die Medikamente haben versagt, zumindest für den Moment, und so konnte ich dich finden! Ich werde dir helfen, Tasha. Ich werde dich hier rausbringen, und ich werde dich zurückbringen zu den Leuten, die du liebst. Ich werde dafür sorgen, dass du aus diesem Versuchslabor entkommst. Und ich werde dafür sorgen, dass sie für das bezahlen, was sie dir angetan haben!“

„Was sie… mir angetan haben?“ Vollkommen verwirrt schüttelt Tasha den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich ging, was dieses Ding von ihr wollte, was es eigentlich war…

Es antwortete ihr unmittelbar, schien ihre Gedanken gelesen zu haben. Und erkannt zu haben, wie verwirrt und verunsichert Tasha war. „Ich bin der Gott der verirrten Seelen. Ich werde die führen, sowie ich alle führe, die es wert sind, gerettet zu werden. Alle, von denen ich weiß, dass sie es mir danken werden.“

„Der…Gott der verirrten Seelen?“ Tasha machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Worte hervorzubringen, wozu auch, wenn das Ding ohnehin ihre Gedanken zu lesen schien. Das alles ergab keinen Sinn. Und klang doch zugleich seltsam vertraut, schien irgendetwas in ihren Erinnerungen anzuregen, etwas, das nicht greifbar war… nicht, bis dass Ding ihr antwortete. „Sicher, Tasha. Der Gott der verlorenen Seelen. Du hast es vergessen, aber du kennst mich, weil Mom dir immer von mir erzählt hat! Du hast dich immer gefürchtet, weil du Angst hattest, dass ich dich hole, wenn du im Winter zu spät nach Hause kommst. Aber du hast keinen Grund, Angst vor mir zu haben Tasha, weil du es wert bist, gerettet zu werden…“

Und da waren sie, die Erinnerungen. Klar und deutlich, und so intensiv, dass Tasha sich unmittelbar fragte, wie sie es hatte vergessen können. Sie sah es bildlich vor sich, sich selbst als kleines Mädchen, das in ihrem Bett lag und gebannt und zugleich verstört den Erzählungen ihrer Mutter lauschte, den Geschichten über jenes Ding, das nun hier vor ihr saß, in diesem Zimmer in dem sie noch niemals von jemandem Besuch bekommen hatte, der nicht in dieser Einrichtung arbeitete…

„Der Wendigo.“, flüsterte sie heiser.

Das Geräusch, das das Ding – der Wendigo – nun ausstieß, ließ tiefste Zufriedenheit erahnen. „Großartig, Tasha! Siehst du, du erinnerst dich.“ Seine Stimme hatte nun nichts mehr von der kurzzeitig vorhandenen Menschlichkeit an sich, wieso auch, kam sie doch von einem Monster, das Tasha als kleines Mädchen nächtelang Alpträume beschert hatte. Die Kreatur, die in den Bergen wohnte, wo sie auf Menschen lauerte die im Schneetreiben den Weg nicht mehr nach Hause fanden, um sich entweder auf sie zu stürzen und ihnen das Fleisch vom Leib zu reißen oder aber sie dazu zu bringen, eben diese Grausamkeiten selbst auszuführen.

„Das spielt keine Rolle, Tasha. Nicht für dich.“ Trotz der unmenschlichen Stimme klang der Wendigo beinahe zärtlich. Tasha wandte sich ihm erneut zu, und diesmal war da kein Schauer des Entsetzens, der sie überkam, sie verstand es selber nicht… doch irgendwie löste diese Kreatur nun, da sie wusste, was sie war, in ihr ein Gefühl der Beruhigung aus.

Das ergab keinen Sinn. Nichts hiervon ergab einen Sinn, nicht dieses Ding, nicht die Dinge, die es sagte, nicht Tashas Empfindungen! Sie sollte panisch sein, hysterisch, vollkommen aufgelöst, sie sollte um Hilfe rufen, den Pfleger der Nachtschicht darum bitten, ihr etwas gegen diese Wahnvorstellungen zu geben…

Und doch tat sie nichts davon. Betrachtete lediglich den Wendigo, der seinerseits ihren Blick erwiderte, und dabei fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Vielleicht war sie verrückt, vielleicht nicht. Vielleicht sprach sie mit einer Projektion ihres Unterbewusstseins, vielleicht war diese Kreatur wirklich da, sie wusste es nicht. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Keine, jedenfalls nicht, wenn…

Mit einer Stimme, die so fest und selbstsicher klang, dass es sie selbst überraschte, ergriff Tasha das Wort, und mit jeder Silbe, die sie sprach fühlte sie sich besser und besser. „Du hast gesagt, dass du mir helfen kannst. Was genau meinst du damit? Was willst du tun?“

Und wieder glaubte sie, in dem emotionslosen Gesicht des Wendigos eine Regung ausmachen zu können. So als sei er sehr, sehr zufrieden damit, wie die Situation sich entwickelte. „Das ist richtig, Tasha.“, erwiderte er, und das Knacken seiner Kiefer empfand Tasha nun mehr als angenehm. „Du kommst raus aus diesem Loch hier, und das noch heute Nacht. Ich helfe dir, Tasha. Du bist nicht wahnsinnig. Aber jetzt musst du erst einmal so tun, als wärst du es.“

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